Im Zauberland der Schmetterlinge
Es war einmal ein alter
Ackergaul namens Jolante, der seine Dienstzeit bereits beendet hatte. Jolante
lebte bei einem ebenfalls schon sehr alten Bauernehepaar ganz weit draußen auf
dem Land. Eigentlich konnte man gar nicht mehr zählen, wie alt der Ackergaul
war, jedenfalls war er schon sehr alt und entsprechend schon ein wenig
klapprig.
Jolante stand den ganzen Tag
auf der Wiese herum, wenn das Wetter schön, aber nicht zu warm war und im
Stall, wenn es regnete. Es war ein langweiliges Leben. Und wenn Jolante an
frühere Zeiten dachte, als sie noch jung gewesen war, dann wurde sie wehmütig
und sehnte die gute alte Zeit herbei.
Eines Tages zog es Jolante
hinaus auf die Wiesen. Sie war müde. Sehr müde um es genau zu sagen. Und
Jolante war der Meinung, dass jetzt ihre Zeit gekommen war, wo sie Abschied
nehmen musste von der guten alten Erde, um eingehen zu können in den ewigen
Kreislauf des Lebens.
Ihre Schritte waren
schleppend und müde und der graue Bart hing ihr bis fast an den Boden, so sehr
neigte sie ihren Kopf herab. Vorteilhaft war diese Gangart ganz bestimmt
nicht, denn so verpasste der alte Ackergaul fast einen wunderschönen
Wasserfall, der in einiger Entfernung zu sehen und zu hören war.
Aber Jolante, der alte Ackergaul,
nahm ihn wahr und beschloss, so kurz vor dem Ende ihres Lebens noch einmal
diesen wunderschönen Anblick von nahem zu genießen. Und so trabte sie langsam
näher.
Dort angekommen war sie
überwältigt von dieser prachtvollen Schönheit, die der Wasserfall ausstrahlte.
So viel Kraft und Leben! Schön! Und sie wünschte sich, dass auch sie noch
einmal so viel Kraft haben würde.
Da Jolante durstig war,
beugte sie ihren Kopf herab und trank etwas von dem kristallklaren, frischen
Wasser und löschte so ihren Durst. Und weil Jolante müde war, bemerkte sie
nicht, dass dort unten eine kleine, grüne Raupe auf der Erde saß, die nur auf
diesen Augenblick gewartet hatte.
Schwuppdiwupp klammerte sich
die kleine, grüne Raupe an dem langen Bart von Jolante fest und krabbelte
langsam, Stück für Stück, am Bart höher und höher, bis sie am Ohr des
Ackergauls angelangt war.
Dort angekommen flüsterte
sie, um den Ackergaul nicht zu erschrecken: „Hallo, mein Freund. Ich bin Pips,
die kleine Raupe. Ich möchte in das Wunderland hinter dem Wasserfall, denn ich
habe gehört, dass dort Wunder geschehen sollen. Würdest du mich dort
hinbringen? Ich allein schaffe es nicht, denn ich würde unter dem vielen Wasser
des Wasserfalls ertrinken.“
Ein wenig irritiert war
Jolante schon, denn es ist ja nun nicht gerade alltäglich, dass man eine Raupe
im Ohr sitzen hat, die einem auch noch zuflüstert, dass sie durch den
Wasserfall gebracht werden will – und dann auch noch in ein Wunderland, wo es
Wunder doch nun wirklich nicht auf der Welt gibt.
Jolante schüttelte den Kopf,
aber sofort fiel ihr ein, dass ja dann die Raupe aus dem Ohr fallen könnte und
so ließ sie es wieder sein. Statt dessen wieherte sie leise, was in der
Raupensprache etwa so viel hieß, als wenn Jolante der Raupe noch nicht glaubte.
„Bitte, lieber Ackergaul.
Ich glaube, es wird auch dein Schaden nicht sein, wenn du mitkommst. Wir
könnten dort bestimmt gute Freunde werden. Lass’ es uns doch wenigstens
versuchen!“ jammerte Pips, die Raupe, und deutlich konnte man einen
weinerlichen Unterton vernehmen.
Jolante überlegte einen
Moment, aber dann gab sie ihr Einverständnis und fragte die Raupe, wie sie das
am besten machen sollten. Die Raupe erklärte es Jolante ganz genau und dann
klammerte sie sich im Ohr des Ackergauls fest und es ging los.
Das Wasser prasselte auf
Jolante hernieder und es schmerzte beinah schon ein wenig. Aber sie schnappte
tief Luft und marschierte durch das stürmische Wasser hindurch. Als sie die
Luft kaum noch anhalten konnte und schon die Lungen schmerzten, sah sie ein
Licht und ihre Schritte wurden schneller. Und dann war sie plötzlich wieder
draußen.
Es war herrlich! Ein Blick
über ein zauberhaftes Land. Das musste das Paradies sein! Frische
Frühlingsluft, ein wunderschöner Duft ringsherum und ein unendliches Meer von
herrlichen Blüten in allen nur erdenklichen Farben. Was für eine Pracht!
Jolante konnte sich gar nicht sattsehen.
Auch Pips kam aus dem Ohr
wieder heraus gekrochen und schüttelte sich erst einmal. Und dann staunte auch
sie nicht schlecht, denn so etwas herrliches hatte sie noch nie in ihrem Leben
gesehen.
„Oh, das ist ja noch
herrlicher als ich es mir in meinen kühnsten Träumen zu träumen gewagt hatte!“
rief die Raupe begeistert und seufzte tief. Und auch Jolante konnte dem nur
zustimmen.
Plötzlich kam ein
Schmetterling auf sie zu und hielt kurz vor ihnen an. „Guten Tag und herzlich
Willkommen im Zauberland der Schmetterlinge. Hier bei uns ist alles leicht.
Aber leider dürfen hier nur Schmetterlinge leben. Für andere Tiere ist es
verboten,“ sagte der Schmetterling, der hübsch in vielen bunten Farben
schillerte.
„Aber ich würde doch so gern
hier bleiben,“ jammerte die Raupe. „Alles würde ich dafür tun!“
„Oh, ja, ich auch!“ sagte
Jolante, die sich blitzschnell überlegt hatte, dass sie dieses Leben hier auch
gern eintauschen würde gegen das triste Leben auf dem Bauernhof.
„Nun gut, dann gibt es für
euch nur eine Möglichkeit. Ihr müsst Schmetterlinge werden!“ erwiderte der
Schmetterling, der vor ihnen stand.
„Ja, ja, das wollen wir
werden,“ sagten Pips und Jolante im Chor. „Dafür würden wir alles tun.“
„So viel ist gar nicht
notwendig,“ sagte der Schmetterling und sprach eine Zauberformel, die die
beiden nicht verstanden. Es gab einen merkwürdigen Knall und dann waren der
Ackergaul Jolante und die Raupe Pips zu wunderschönen Schmetterlingen geworden.
„Das ist ja phantastisch!“
rief der Schmetterling Pips aus. „Das ich das noch erleben darf!“ Und auch der
Schmetterling Jolante war begeistert und flatterte aufgeregt hin und her.
„Ich wünsche euch viel
Freude im Zauberland der Schmetterlinge!“ rief der Schmetterling, der sie
vorhin begrüßt hatte und schon flatterte er davon.
Und Jolante und Pips machten
sich gemeinsam auf den Weg. Sie untersuchten das ganze Land, fanden viele neue
Freunde und lebten ein ganzes glückliches Schmetterlingsleben im Zauberland der
Schmetterlinge.
Und die Moral von der Geschicht':
Es bedarf nur wenig, um das Leben wieder in vollen Zügen zu genießen!
copyrights: Gudrun Anders
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